Warum Autobiographik?

Abstract
Nie darf man die Funktion des autobiographischen Schreibens aus den Augen verlieren, die von der Selbsterkenntnis, über Selbstanerkennung, Selbstverständigung, bis zur Beruhigung und Orientierung hin reicht. Autobiographisches Schreiben ist als „Streben nach Wahrheit“ zu verstehen, das im Spannungsverhältnis zwischen dem Willen zur Ehrlichkeit, der Subjektivität jeder Selbstäußerung (die auch das nicht-sprachliche Repräsentationssystem der phantasmatisch-imaginären, oder traumhaft-halluzinatorischen Erfahrungsordnungen und -deutungen miteinschließt) und der Unvermeidlichkeit der sinnstiftenden Autokreation vor sich geht. Da die zentrale Aufmerksamkeit des Autobiographischen dem Subjekt gilt, erlangt seine phantasmatisch-imaginäre (oder auch traumhaft-halluzinatorische) Erfahrungsordnung den gleichen Rang wie das ‚real‘ Erlebte und Wahrgenommene: beides wird ‚im‘ und ‚vom‘ Subjekt verarbeitet. Bei der Deutung der subjektiven autobiographischen Wahrheit muss somit die Grenze zwischen den realen Welten und realen Erlebnissen auf der einen und phantasmatisch-imaginären Einbildungen auf der anderen Seite als höchst unscharf bezeichnet werden. Die Gestaltung des autobiographischen Projekts ist somit als Ergebnis einer Interreaktion von design und thuth (Roy Pascal), d.h. von zwei einander bedingenden Grundbedürfnissenden zu bezeichnen: der Suche nach dem subjektiv (hier: persönlich, intim) Relevantesten und der Überprüfung des eigenen Lebensprojekts auf seinen gegenwartsbezogenen, mit der sozialen Umwelt ausgehandelten Sinn. In den autobiographischen Texten werden die identitätsrelevanten Erinnerungsinhalte aktualisiert und fixiert. Ein Diarium erzwingt nahezu die Selektion des Materials: Das, was für die Selbststabilisierung relevant sein kann und erlaubt das Erlebte zu deuten,, wird aufgeschrieben; alles, dagegen, was damit im Widerspruch steht, findet keinen Eingang in das Diarium. Im Falle der nachträglichen Deutung des Erinnerten, hat man es mit unbewusster Korrekturarbeit des Prekären zu tun, die von der Umdeutung, Verklärung, bis hin zur Verdrängung und (Selbst)Verleugnung reichen kann. Die formale und inhaltliche Gestaltung von (re)konstruierten „Selberlebensbeschreibungen“ (Diarien, Aufzeichnungen, Erinnerungen, Memoiren, Autobiographien, u.a.) hängen von den Zielen ab, die das jeweilige schreibende Ich im Rahmen seines autobiographischen Projekts verwirklichen will. Als zentraler Grundsatz der Autobiographik kann die autobiographische Intention definiert werden, die dem autobiographischen «Ich» möglich macht, seine autobiographische Wahrheit einem impliziten «Du» mitzuteilen. Die Bestätigung oder Ablehnung der intersubjektiven Gültigkeit des in der Autobiographik Mitgeteilten wird dem Leser überverantwortet – der sich in dem impliziten «Du» erkennen kann oder auch nicht.
Description
Warum Autobiographik? ist Kapitel 1 aus: Narrative Bewältigung von Schuld und Trauma in der deutschsprachigen Autobiographik vor 1989/1990, Oficyna Wydawnicza „Atut“/Wydawnictwo „Neisse“ Wrocław-Drezno 2011.
Keywords
Citation
Mirosława Zielińska, Warum Autobiographik? Kapitel 1 aus: Narrative Bewältigung von Schuld und Trauma in der deutschsprachigen Autobiographik vor 1989/1990, Oficyna Wydawnicza „Atut“/Wydawnictwo „Neisse“ Wrocław-Drezno 2011